Die Schwimmbadaufgabe zur Stochastik aus dem NRW-Mathematikabitur 2019

 

Ein sehr einfaches Gegenbeispiel, das die Fehlerhaftigkeit der „Modelllösung“ des NRW-Schulministeriums zeigt.

 

Der entscheidende Punkt bei der „Modelllösung“ der Schwimmbadaufgabe ist eine angebliche Beziehung zwischen den erwarteten Einnahmen des Kioskbesitzers und der Zahl der Besucher mit Jahreskarte, die dem Leser leicht als plausibel erscheint, aber ohne Zusatzvoraussetzungen gar nicht aus dem Aufgabentext herleitbar ist, nämlich die angebliche Beziehung

 

Erwartungswert der Einnahmen unter der Bedingung „x Jahreskarteninhaber kommen an dem Tag“ =

x mal (0.5 mal 4 + 0.3 mal 12) = x mal 5.6  Euro

 

Weil das ziemlich allgemeine, recht mathematisch dargestellte Gegenbeispiel, das ich in www.franzreinholddiepenbrock.de/kritiknrwabischwimmbadaufgabe.html  bringe, vermutlich manchen Lesern etwas kompliziert erscheinen wird, deshalb wird hier ein konkreteres einfacheres Beispiel gebracht.

 

Allerdings gehe ich hier von nur zwei Jahreskarteninhabern aus. Denn wer sich die Argumentation der „Modelllösung“ ansieht und sie für korrekt hält, merkt sofort, dass sie statt für die Anzahl 2000 genauso für eine andere Anzahl - scheinbar natürlich nur - funktionieren würde. Hier wird einfach für den Fall von zwei Jahreskarteninhabern gezeigt, dass sie eben nicht funktionieren kann.

 

Dem einfachen Beispiel liegt folgende Idee zu Grunde: Wenn beide Jahreskarteninhaber an dem Tag erscheinen, dann kauft keiner von ihnen am Kiosk. Man könnte sich ja vorstellen, dass die beiden sich nicht leiden können und dass jeder möglichst gar nicht vom anderen gesehen werden will, sich also gegebenenfalls in eine ganz andere Ecke der Rasenfläche setzt und es vermeidet, zum Kiosk zu gehen, damit der andere ihn nicht sieht.

 

Damit nun die Wahrscheinlichkeitsangaben des Aufgabentexts zutreffen, muss dafür gesorgt werden, dass die Wahrscheinlichkeit 0.5 bzw. 0.3 für einen 4-Euro bzw. 12-Euro-Kauf sich bei beiden Jahreskarteninhabern jeweils auf den Fall konzentrieren, dass nur dieser eine erscheint. Denn wenn keiner erscheint, gibt auch keiner etwas aus, und wenn beide erscheinen, dann beruht der Trick bei diesem Gegenbeispiel ja darauf, dass dann keiner etwas ausgibt.

 

Man kann das Wahrscheinlichkeitsmodell nun so beschreiben:

 

Der Ergebnisraum Ω enthält Viertupel.

 

Die ersten beiden Komponenten beziehen sich auf den ersten Jahreskarteninhaber, die dritte und vierte Komponente auf den zweiten.

 

Die Viertupel haben die Form (x1 , a1 , x2 , a2 ). Dabei sind x1 und  eine Indikatorvariable, die mit dem Wert 1 bzw. 0 angibt, ob der Jahreskarteninhaber an dem Tag das Schwimmbad besucht oder nicht besucht. Die Komponente a1 bzw. a2 gibt die Kiosk-Ausgaben des ersten bzw. Jahreskarteninhabers an (die natürlich auch den Wert 0 annehmen können).

 

Dem entsprechend kann man folgende Zufallsvariablen betrachten X1  bzw. X2 ist die Projektion auf die 1. bzw. 3. Komponente, A1  bzw. A2  die Projektion auf die 2. bzw. 4. Komponente. Also gilt beispielsweise A2( (1,4 , 0,0) ) = 0

 

Den verschiedenen Viertupeln sollen nun folgende Wahrscheinlichkeiten zugeordnet sein

 

(0, 0 , 0, 0 )   0.9 mal 0.9

 

(1, 4 , 0, 0)   0.1 mal 0.5

(1,12 , 0, 0)   0.1 mal 0.3

(1, 0 , 0, 0)    0.01   (diese Zahl ergibt sich aus Überlegungen bezüglich des Komplements)

 

Analog dazu folgen nun drei Viertupel, bei denen aber jeweils die Komponenten 1,2 mit den Komponenten 3,4 vertauscht sind.

 

Also

 

(0, 0 , 1, 4)   0.1 mal 0.5

(0, 0 , 1,12)   0.1 mal 0.3

(0, 0 , 1, 0)   0.01  

 

Nun folgen noch alle Viertupel, bei denen in Komponente 1 und 3 jeweils eine 1 steht. Inhaltliche Interpretation: Wenn beide Jahreskarteninhaber das Bad besuchen, gibt keiner am Kiosk etwas aus.

 

(1, 0 , 1, 0)   0.1 mal 0.1

(1, 0 , 1, 4)   0

(1, 0 , 1,12)   0

(1, 4 , 1, 0)   0

(1, 4 , 1, 4)   0

(1, 4 , 1,12)  0

(1,12 1, 0)   0

(1,12 1, 4)   0

(1,12 1,12)  0

 

Die Gesamtwahrscheinlichkeit rechnet man nur zur Kontrolle aus:

 

0.81+2 mal 0.09 + 0.01 = 1  

 

Man sieht, indem man einfach die Wahrscheinlichkeiten des 2., 3. und 4. Tupels addiert:

 

P(X1  = 1 und X2 = 0) = 0.05 + 0.03 + 0.01 = 0.09 = 0.1 mal 0.9

 

Ferner sieht man

 

P(X1  = 1 und X2 = 1) = 0.1 mal 0.1

 

und

 

P(X1  = 0 und X2 = 0) = 0.9 mal 0.9  ,  P(X1  = 0 und X2 = 1) = 0.09 = 0.9 mal 0.1

 

Also sind (X1 , X2 ) voneinander stochastisch unabhängig, jeweils Bernoulli(p)-verteilt mit p = 0.1, die Summe X aus beiden ist folglich binomialverteilt mit den Parametern n=2 und p=0.1 (was man natürlich auch direkt ausrechnen kann).

 

Es gilt

 

P(A1 = 4 | X1 = 1) = P(A1 = 4 und X1 = 1) / P(X1 = 1) =

P( {(1, 4 , 0, 0) , (1, 4 , 1, 0) , (1, 4 , 1, 4) , (1, 4 , 1,12)} ) / 0.1 = (0.1 mal 0.5 + 0 + 0 + 0)/ 0.1 =

0.5

 

Analog dazu erhält man

 

P(A1 =12 | X1 = 1) = 0.1 mal 0.3 / 0.1 = 0.3

 

Das im Aufgabentext genannte Ausgabeverhalten des ersten Jahreskarteninhabers liegt hier also vor.

 

Natürlich gelten wegen der Symmetrie bezüglich X1 und  X2 dieselben Aussagen für X2 und A2  , also für den zweiten Jahreskarteninhaber.  

 

Wenn nun beide Jahreskarteninhaber das Schwimmbad besuchen, dann nehmen  X1 und  X2 jeweils beide den Wert 1 an. An der obigen Festlegung der Wahrscheinlichkeit sieht man aber, dass in dem Fall beide kein Geld am Kiosk ausgeben. Es gilt also für die Gesamteinnahmen A = A1 + A2 des Kioskinhabers

 

E(A | X=2) = 0

 

Der bedingte Erwartungswert der Einnahmen des Kioskbesitzers unter der Bedingung, dass zwei Jahreskarteninhaber erscheinen, ist also keineswegs gleich 2 mal 5.6 Euro, wie es der Argumentationsweise der „Modelllösung“ entsprechen würde.

Damit hat man ein Gegenbeispiel dargestellt. Wie oben bemerkt, ist es unerheblich, dass hier der Einfachheit halber von nur zwei Jahreskarteninhabern ausgegangen wird.

 

Obwohl es also überflüssig ist, wird nun noch E(A | X=1) ausgerechnet und gezeigt, dass hier keineswegs vor dem Faktor 5.6 die Zahl 1 steht.

 

E(A | X=1) = E(A1 | X=1) + E(A2 | X=1)

Nun gilt

E(A1 | X=1) = 4 mal P(A1 = 4 | X=1) + 12 mal P(A1 = 12 | X=1)=

4 mal P( A1 = 4 und X=1)/P(X=1) + 12 mal P( A1 = 12 und X=1)/P(X=1) =

4 mal P( {(1,4,0,0)} )/ (2 mal 0.1 mal 0.9) + 12 mal P( {(1,12,0,0)} )/ (2 mal 0.1 mal 0.9) =

4 mal 0.1 mal 0.5 /  (2 mal 0.1 mal 0.9)  + 12 mal 0.1 mal 0.3 / (2 mal 0.1 mal 0.9) =

1 / ( 2 mal 0.9 ) mal (4 mal 0.5 + 12  mal 0.3) = 1/1.8 mal 5.6

Ganz analog erhält man E(A2 | X=1) = 1/1.8 mal 5.6

Also gilt E(A | X=1) = 2/1.8 mal 5.6 = 10/9 mal 5.6

Der Faktor vor 5.6 ist also nicht 1 . Dass er größer als 1 ist, ist verständlich, denn es muss kompensiert werden, dass unter der Bedingung X=2 der Erwartungswert der Einnahmen gleich null ist.

 

 
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