Betrachtungsabstand, Sehwinkel und die DIN 32975 "Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung"

Es sei der Klarheit halber vorweg bemerkt: Es ist nicht zwingend vorgeschrieben, dass diese Norm bei der Beschilderung der Schwebebahnwagen eingehalten wird. Aber die Einhaltung dieser Norm wäre wünschenswert. Bei realistischer Betrachtung muss man aber sagen, dass sie nicht eingehalten wird, und das wird hier erläutert.

Zur Norm gehört neben Anforderungen an den Leuchtdichtenkontrast auch, dass ausreichende Erkennbarkeit visueller Informationen gefordert wird, und so befasst sich der Abschnitt 4.2.5 mit Zeichengrößen und verweist darauf, dass in Anhang A ein „Modell“ (eine Formel) für die Mindestzeichenhöhe in Abhängigkeit vom Betrachtungsabstand (Beobachtungsentfernung) dargestellt wird. Bei der Anwendung dieser Formel muss man natürlich sehr gut auf die Maßeinheiten aufpassen, weil in dieser Formel die Zeichenhöhe in Punkten und der Betrachtungsabstand in Metern anzugeben ist. Wenn man nun davon ausgeht, dass in dem „Pendelwarnungspiktogramm“ der Erklärungstext die Schriftgröße 3 Millimeter hat, und wenn man entsprechend der DIN von der Sehschärfe (Visus) 0,1 ausgeht und in der Formel aus dem Anhang den Korrekturfaktor Ks gleich 1 wählt, dann erhält man:

Der Betrachtungsabstand muss für Sehbehinderte mit der Sehschärfe 0,1 gleich 86 Millimetern (!) oder kleiner sein.

Jetzt noch zu behaupten, dass die DIN 32975 erfüllt sei, das wäre absurd und könnte nur auf einer extrem unrealistischen Betrachtungsweise beruhen. Nun sollte man vernünftigerweise aber auch mal den Betrachtungsabstand für die weniger pessimistische Annahme ausrechnen, dass der Sehbehinderte eine Sehschärfe von 0,3 hat. Dann ergibt sich

Betrachtungsabstand = 258 Millimeter = 25,8 Zentimeter bei einem weniger stark Sehbehinderten mit Sehschärfe 0,3

Selbst bei dieser optimistischeren Annahme ergibt sich: Der Betrachtungsabstand müsste unrealistisch klein sein.

Denn die Realität bei der Benutzung der Schwebebahn sieht doch so aus: Wer eingestiegen ist, sucht einen Sitz- oder Stehplatz irgendwo, und vor dem Aussteigen muss der Fahrgast sich oft im Gedränge zum Ausgang durchkämpfen. Er hat also i.a. gar keine Gelegenheit, die Winzig-Piktogramme zu erblicken (geschweige denn zu verstehen). Wer oft mit der Schwebebahn fährt, der braucht i.a. keine Warnung zu sehen. Aber wer nur selten oder beispielsweise als Tourist das erste Mal mit der Schwebebahn fährt, für den bleibt nur zu hoffen, dass der Wagen beim Aussteigen wenig pendelt oder dass der Schritt aus dem Wagen groß genug ist.

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt: Es gibt neben der DIN 32975 auch andere Empfehlungen bezüglich der Relation zwischen Betrachtungsabstand und Schriftgröße. Wenn man beispielsweise die Regel verwendet, dass der Sehwinkel zwei Grad sein soll, so erhält man ebenso wie oben den Betrachtungsabstand 86 Millimeter. Wenn man die Forderung bezüglich des Sehwinkels abschwächt zu 1 Grad bzw. 0,8 Grad, dann erhält man die Betrachtungsabstände 172 bzw. 215 Millimeter.

Selbst wenn man sich - unsinnigerweise - auf den Standpunkt stellt, dass der Erläuterungstext „Wagen pendelt“ gar nicht wichtig ist, so sei bemerkt, dass das Pendeln der Bahn grafisch durch eine sehr dünne weiße Linie veranschaulicht wird, deren Sichtbarkeit aber ebenfalls einen sehr geringen Betrachtungsabstand erfordert.

Wie errechnen sich nun die obigen Betrachtungsabstände aus der Formel im Anhang A der Norm? Die Formel lautet

P = a mal D/Vk + b

Dabei ist a=6,14 , b= 3,0 , P ist die Schriftgöße in Punkten, D die Beobachtungsentfernung in Metern (!) , Vk die auf die gegebene Adaptionsleuchtdichte korrigierte Sehschärfe. Bei der Berechnung von Vk habe ich in Ermangelung von Information über die Adaptionsleuchtdichte sinnvollerweise als Korrekturfaktor einfach 1 genommen, als Sehschärfe (Visus) in der ersten Berechnung 0,1 und in der zweiten 0,3. Ein Punkt entspricht 0,3582 Millimetern.

Die Konsequenz: Vernünftigerweise sollten die Stadtwerke die Beschilderung in den neuen Schwebebahnwagen nicht so lassen, wie sie jetzt ist.

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